Nicht Nicole Krauss sondern Leo Gurski ist der Autor von „Geschichte der Liebe“. Sie ist nur der Chronist, der über die verschlungenen Pfade des Buches und der Menschen berichtet, deren Leben der Roman veränderte.
Die Geschichte beginnt in den 30-er Jahren des 20. Jahrhunderts in Polen. Hier lebt Leo Gurski und ist unsterblich in Alma verliebt. Ihr widmet er sein Buch und trotz seiner unendlichen Liebe zu ihr ermutigt er sie, nach Amerika zu emigrieren. Er verspricht, ihr bald nachzukommen doch die Nazis besetzen sein Dorf und töteten alle Einwohner. Nur Leo kann entkommen und versteckt sich die nächsten Jahre im Wald, ernährt sich von rohen Ratten, Würmern und Insekten. Nach Kriegsende wandert auch er aus um Alma zu finden und zu heiraten.
Das Mädchen Alma Singer lebt im heutigen New York. Ihr Vater David, aufgewachsen in Israel, starb, als sie 7 Jahre alt war. Dieser war ein begeisterter Naturmensch und schenkte seiner Frau das spanischsprachige Buch „Geschichte der Liebe“. Nach dem Tod ihres Vaters erbt Alma dessen Schweitzer Armeemesser und seine Vorliebe für die Natur. Sie führt eine Art Tagebuch darüber, wie man in der Wildnis überleben kann.
Parallelen zwischen den beiden Hauptfiguren Leo und Alma gibt es zuhauf. Beide lieben etwas, was sie verloren haben. Doch lieben sie die Person oder ist es nur ein Festhalten, ein Nicht-Loslassens-Können dessen, was für immer vergangen ist? Sind es echte Gefühle oder nur die Illusion daran, die sie wach halten? Und welche Erinnerungen sind wirklich gelebt, welche erdacht? Beide Protagonisten stellen sich gegen Ende des Romans diese Fragen und Alma erzählt, nicht ohne selber über ihre Gefühle überrascht zu sein, dass sie sich immer weniger an fassbare Dinge sondern mehr daran erinnert, welches Gefühl die Nähe ihres Vaters in ihr auslöste. Und sie erzählt dies sanft, ohne Schuldgefühle und ohne Reue.
Nicht gerade die Venus von Milo
Leo möchte gerne ein richtiges Ekel sein. Anfangs erzählt er von seinen kindischen Streichen, die er trotz seines hohen Alters anderen spielt, nur um Gesehen zu werden. Nur, damit jemand am letzten Tag seines Lebens sagen kann: „Ja ich habe Leo Gurski heute noch gesehen“. Dabei geht er soweit, sich als Nacktmodell zu verdingen und bietet dabei nicht gerade den Anblick der „Venus von Milo“.
Doch schnell erkennt man, dass dieses Verhalten nur Aufgesetzt ist und die Tatsache vertuschen soll, dass Leo einsam ist und Angst hat. Diese Angst verfolgt ihn seit seinem Eintreffen in Amerika. Was war er? Ein Mensch, ein Überlebender? Hatte er überhaupt ein Recht darauf, zu leben, zu lieben und geliebt zu werden? Leo hatte immer das Gefühl, ein Außenseiter zu sein. Freunde hatte er nur wenige und auch darin sind sich der Teenager Alma und der Greis Leo ähnlich. Und Leo verfügt über eine außergewöhnliche Fähigkeit: seit seiner frühesten Kindheit ist er in der Lage, Dinge vor seinem inneren Auge so lebendig werden zu lassen, dass sie für ihn real sind. So imaginiert er einmal als Kind einen lebenden Elefanten auf dem Dorfplatz und bleibt auch bei dieser Geschichte, als ihn alle anderen Dorfbewohner für verrückt halten.
Nicole Krauss spielt gerade bei den Erinnerungen Leos mit den Blickwinkeln und es wird selten eindeutig klar, ob das, was Leo erzählt, Tatsachen sind oder Illusionen. So beginnen einige Textpassagen aus Leos Rückblicken mit „Es war einmal…“. Dies ist ein wohlbekannter Anfangssatz zahlreicher Märchen. Erzählt Leo Märchen? War doch alles ganz anders, als er erzählt? Warum erfahren wir beispielsweise nie etwas aus der Sicht Brunos? Ist Bruno nur ein alias, eine Fiktion oder das Alter ego Leos?
Facettenreiches Puzzlespiel
Bei allem literarischen Anspruch schafft es die Autorin, die Puzzlestücke zu einem vergnüglichen Ganzen zusammenzusetzen. Dies liegt zum einen an den gelungenen Erzählsträngen und den gegensätzlich-ähnlichen Protagonisten. Zum anderen trägt Nicole Krauss Humor und ironisches Augenzwinkern viel zum Spaß an der Lektüre bei. Doch auch an ernsten Themen fehlt es nicht in diesem anregenden Roman. Beispielsweise erfahren wir einiges über das Judentum und jüdische Traditionen sowie der Identitätssuche und dem Integrationswillen der Auswanderer. Der Einfluss von Kunst und Literatur auf Menschen spielt genauso eine Rolle wie Trauer, Verlust, Liebe und der Suche danach.
Im Argon-Verlag erschien die ungekürzte Lesung des Romans durch Dieter Mann. Erwartungsgemäß souverän liest er die Anfangspassagen, in denen Leo aus seinem Leben erzählt. Aber Dieter Mann trumpft erst so richtig auf, als Alma Singer erstmalig die Bühne betritt. Das ist wahre Meisterschaft, wie er hier ein junges Mädchen zum Leben erweckt. Seine Stimmlage spiegelt zwar nuanciert alle emotionalen Ebenen des Geschehens wieder bleibt aber interessanterweise immer ungefähr bei der gleichen Stimmlage. Doch was er verändert, ist die Art, wie er liest, die Wörter betont, Pausen einlegt oder die Lesegeschwindigkeit erhöht oder verringert. Vielleicht geht es ihnen letztendlich auch so wie mir: zu passender und auch unpassender Zeit hallt in meinem Kopf eine Stimme die sagt: „Und doch“ – ein unvergesslicher Terminus.
Fazit: Intelligente, anspruchsvolle emotionsgeladene und abwechslungsreiche Geschichte um die Suche nach Liebe eines Greises und eines Teenagers in New York. Ein absolutes Highlight des letzten Herbstes und eine Top-Empfehlung für alle Freunde von Paul Auster, Siri Hustvedt oder Jonathan Safran Foer.
Rezensent: Wolfgang Haan