Berlin, Mitte der 90-er Jahre: der gebürtige Niederländer Arthur Daane ist ein erfolgreicher Dokumentarfilmer mit Domizil in Berlin. Sein täglich Brot verdient er mit Bildern aus weltweiten Krisengebieten: er schlägt Kapital aus Mord und Totschlag, verhungernden Kindern – die moderne Art der Leichenfledderei. Auch privat beschäftigt er sich mit Toten, allerdings auf einer völlig anderen Ebene: vor neun Jahren kamen Frau und Sohn bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Seitdem versucht er, in einem privaten Filmprojekt sonst vergängliche Spuren zu archivieren. Dabei filmt er überwiegend zu einer Tageszeit, „in der sonst keiner mehr filmt“ – der Abenddämmerung. Seine Objekte sind ähnlich befremdlich: langsame Schwenks über hastende Füße, die Füße Tempelstufen empor schreitender Gläubige, Fußspuren im Schnee, Baustellen und ähnliches; Cees Nooteboom versucht sich an der Beantwortung elementarster Fragen: „Wie kann man die Erinnerung an Vergangenes bewahren?“ und „Wie weit kann man historischen Aufzeichnungen Glauben schenken?“
Hochgeistige Gespräche geistesabwesender Anwesender
„Auch wenn du da bist, bist du nicht da“ – so wird Arthur von seinem besten Freund treffend charakterisiert. Zahlreiche Gespräche finden im Roman statt; doch statt sich rege an diesen zu beteiligen, erinnert Arthur währenddessen Gespräche, Satzfetzen oder Begebenheiten aus längst vergangenen Unterredungen und versucht, aus diesen eine zweite, nur für ihn zugängliche Gegenwart zu erschaffen. Doch bleibt er in diesem Zeitbrei hängen, kann nicht mehr unterscheiden, was ist zur Erinnerung verfälschte Vergangenheit, was tatsächlich geschehen.
Vage reiht er vergangene Spur an vergangene Spur. Doch wie sehr er sich auch anstrengt: er schafft es nicht, Vergangenes dem Vergessen zu entreißen und so eine Gegenwart zu erschaffen, in der er leben kann. Er traut sich nicht zu, völlig bewusst in der Gegenwart zu leben, ohne das die Erinnerungen, die er so wichtig nimmt, abhanden kommen, deren Erhalt er sich so sehr verpflichtet fühlt. Als beispielsweise der Gruppe von Freunden bei einem Besuch in ihrem Lieblingsweinhaus auffällt, dass ein Stammgast fehlt, gehen die Freunde nach einem angemessenen Moment der Betroffenheit zur Tagesordnung über. Arthur jedoch fragt sich, was aus der Violine des Verstorbenen geworden ist.
Selbst bei banalen Begegnungen, beispielsweise mit einer alten Frau an einer U-Bahnstation, konzentriert er sich kaum auf deren Erzählung, sondern versucht, sich diese als junge, schöne Frau vorzustellen.
„Die Agenturen wissen, dass ich [als Kameramann] immer verfügbar bin“ sagt er über sich selber. Deshalb ist Arthur ständig unterwegs, immer mit der Kamera vor Augen – ein Beobachter aus der Distanz, sachlich, unberührt von den Ereignissen vor der Linse. Und er ist sehr gut in seinem Job, ist gefragt. Seine beste Freundin Erna sagt dazu: „Du denkst nicht mit dem Gehirn, du denkst mit dem Auge.“ Doch auch in seinen kurzen Aufenthalten in Berlin oder auf seinen privaten Reisen ist die Kamera sein ständiger Begleiter – unabhängig davon, ob er seinen Freunden essen geht oder mit seiner Geliebten Elik, einer jungen Geschichtsstudentin, die Pfaueninsel besucht. Letztendlich kostet ihn diese Angewohnheit fast das Leben.
So manchem dürfte der kürzlich verstorbene Rudi Carrell und sein niederländischer Akzent ein Begriff sein. Selbst negativste Aussagen klingen dadurch weich, sanfter und schwächen diese ab – dabei sei es einmal dahingestellt, ob dies Mentalitäts- oder Akzentbedingt ist. Die Lesung von „Allerseelen“ übernimmt der Autor selber. Obwohl er versucht, auf seine Art große Fragen des Lebens zu beantworten, wirkt die Lesung weder obstinat noch wirkt sie sich nachteilig auf das Empfinden des Hörers aus. Es bleibt genug Raum für den Hörer, sich auf die eine oder andere Seite der möglichen Interpretationen zu schlagen, wobei ihm der Mittelweg natürlich nicht verschlossen bleibt.
Einen kleinen Unterschied gibt es jedoch bei den essenziellen Aussagen welche die beiden Hauptcharaktere Arthur und Elik betreffen: diese können beim Lesen des Buches keine uneingeschränkte Sympathie oder auch Antipathie beim Leser auslösen; den meisten Lesern wird deren Lebensphilosophie zu abstrakt oder zu weit vom eigenen Empfinden entfernt sein. Die Lesung von Cees Nooteboom hingegen nimmt den beiden Figuren etwas von ihren Kanten. Allerdings bleibt es jedem Einzelnen überlassen, welcher Version er den Vorzug gibt. Mir persönlich hat es großes Vergnügen bereitet, beide Medien und die unterschiedlich gesetzten Akzente zu genießen.
Rezensent: Wolfgang Haan
Der niederländische Dokumentarfilmer Arthur Daane streift durch das winterliche Berlin im Jahre 1989 – auf der Suche nach Motiven für sein »ewiges Projekt«, und nach den Erinnerungen an seine Frau und seinen Sohn, die er bei einem tragischen Unglück verloren hat. Mit Berliner Freunden diskutiert er über die Wende und deren metaphysische Dimension – bis er die junge Geschichtsstudentin Elik Oranje trifft, und alle Metaphysik plötzlich sehr konkret wird.
»Eine einfühlsame Geschichte von einem Menschen auf der Suche nach sich selbst, vom Umgang mit der Erinnerung und der Selbstvergessenheit der Liebe. Zugleich ein intimes Portrait des neuen Berlin.« Süddeutsche Zeitung